
Meine Lieblingsband „Pretty Maids“ brachte in den 90er Jahren ein Album heraus, welches den Titel „Anything worth doing is worth overdoing“ trug. Lange Zeit dachte ich, dass das ein sehr schönes Lebensmotto wäre. Wenn du etwas tust, tue es mit maximaler Leidenschaft und Hingabe und womöglich bis zum Exzess. Heute sehe ich das etwas differenzierter. Manchmal ist weniger eben doch mehr. Multitasking scheint dabei überhaupt nicht passend zu sein.
Das Extreme nicht gut sind, kann ich mir nicht vorstellen. Zumindest fällt mir kein passendes Beispiel dazu ein. Viel mehr kommt es mir so vor, dass wir Dinge immer öfter ohne Maß tun und dabei Grenzen überschreiten, die vor einigen Jahren noch ganz selbstverständlich eingehalten wurden. Ich möchte hier nicht die alte Leier abspielen, dass früher alles besser war. Dem ist definitiv nicht so. Trotzdem kann man eine gewisse Maßlosigkeit in der Gesellschaft erkennen.
War früher wirklich alles besser?
In meiner Kindheit gab es dreieinhalb Fernsehsender. Das Erste, das Zweite und das Dritte. Dazu noch je nach Wetterlage das Schweizer Fernsehen. Die Zeiten, die man damit verbrachte, waren klar umrissen. In der Regel fand Fernsehen nur nachmittags oder abends statt. Man wusste auch genau was man schauen wollte, wurde der Fernseher eingeschaltet. War die Sendung vorbei, wurde abgeschaltet und man ging wieder anderen Beschäftigungen nach. Als wir später einen Videorekorder besaßen, wurden sogar Sendungen aufgenommen, damit wir die Zeit im Sommer draußen verbringen konnten. Fernsehen war also eher eine Sache, die das Leben ergänzte.
Heute steht das Konsumieren von Filmen und Serien teilweise im Fokus der Menschen. Die Möglichkeit sich zu jeder Tageszeit etwas anzuschauen, sind unbegrenzt. Das ist noch nicht mal übertrieben. Kein Mensch könnte sich alle Filme und Serien anschauen, die über die Streamingdienste und Mediatheken angeboten werden. Es geht sogar so weit, dass man sich ganz bewusst auf eine Sucht einlässt. Man könnte meinen, dass das Gefühl unbedingt noch eine Folge schauen zu wollen und dies dann auch zu tun, kritisch gesehen wird. Allerdings ist es mittlerweile so, dass dieses Phänomen positiv behaftet ist. Wenn davon gesprochen wird, dass eine Serie ein Suchtpotential hat und man nicht mehr davon loskommt, so ist das heutzutage ein Qualitätsmerkmal geworden.
Das trägt leider auch dazu bei, dass die Art und Weise wie man Inhalte konsumiert, sich verändert haben. Streamingdienste bieten die Möglichkeit an, Inhalte in höherer Geschwindigkeit abzuspielen. Tatsächlich gibt es nicht wenige Menschen, die diese Funktion nutzen, um somit innerhalb eines bestimmten Zeitrahmens, noch mehr zu schauen. Anscheinend ist es auch sehr beliebt geworden, Serien nebenherzu„schauen“. Parallel wird ein Spiel gespielt, der Haushalt gemacht oder durch die sozialen Medien gewischt. Dass der Mensch nicht fähig ist, Multitasking zu betreiben, ist mittlerweile wissenschaftlich bewiesen. Sicherlich kann man mehrere Dinge gleichzeitig erledigen, allerdings leidet die Qualität des Ergebnisses massiv darunter.
Viele Menschen argumentieren damit, dass die Serien, die sie nebenher schauen, nicht so wichtig sind und es für sie kein Problem ist, wenn sie sich nicht zu einhundert Prozent darauf konzentrieren können/müssen. Da stellt sich mir doch die Frage, warum man die Serie dann überhaupt schaut. Ich gehe schließlich auch nicht ins Kino und spiele den ganzen Film über nebenher auf dem Handy, oder lese ein Buch.
Als Colt Seavers noch ein Event war
Damit kommen wir zurück auf meine Kindheit. Die Auswahl an Inhalten war begrenzt und die Zeit, in der man sich etwas anschaute, hatte schlicht und ergreifend mehr Wert. Es war einem klar, dass wenn man jetzt den Fernseher anschaltet, z.B. nach 45 Minuten Schluss ist, weil die Folge von Ein Colt für alle Fälle dann zu Ende ist.
Wir haben alles ständig zur Verfügung und das auch noch in unbegrenzter Menge. Deswegen schätzen wir es nicht mehr so sehr wie früher. Wenn wir uns früher zu einem Filmabend mit Freunden verabredet haben, so war eine richtige Planung notwendig. Man einigte sich auf eine Uhrzeit und darauf, wo man sich den Film anschauen würde. Dann fuhr man gemeinsam in die Videothek und nach langem Suchen, fand man endlich einen Film, der allen zusagte. Danach ging es noch Knabberzeug kaufen. Das Licht wurde ausgemacht, der Film inkl. Vorschauen geschaut. Während den folgenden zwei Stunden hatte niemand das Bedürfnis, nebenher etwas anderes zu machen. Selbst wenn einem der Film nicht gefiel, man schaute ihn gemeinsam zu Ende. Danach wurde darüber diskutiert, ob er einem gefallen hatte oder nicht.
Möchte ich mir heute einen Film anschauen, genügen ein paar Klicks auf der Fernbedienung und es geht los. Ich muss mich nicht vorher ins Auto setzen, sondern kann in Jogginghose oder sogar im Schlafanzug direkt loslegen. Irgendwie Fluch und Segen zugleich.
Schneller Lesen statt genießen
Ähnlich ist es bei Büchern. Hier gibt es die Möglichkeit, sich selbst beizubringen, wie man schneller liest. Dabei werden Methoden gelernt, wie man möglichst viel Text, innerhalb kürzester Zeit erfassen und verstehen kann. Man geht davon aus, dass ein Normalleser ca. 250 Wörter pro Minute liest. Der inoffizielle Rekord für Schnellleser liegt bei ca. 4.251 Wörtern pro Minute. Bei diesem Versuch wurde „Harry Potter und die Heiligtümer des Todes“ in 47 Minuten gelesen.
Hier muss man allerdings unterscheiden. In manchen Berufen halte ich es für notwendig und hilfreich, wenn innerhalb kurzer Zeit, viel Text gelesen wird. MitarbeiterInnen von Bibliotheken zum Beispiel, müssen viel Querlesen, um Ihren Kundinnen und Kunden Empfehlungen aussprechen zu können. Auch Politiker werden sich in vielen Bereichen nur einen Überblick verschaffen, um halbwegs auf dem laufenden zu sein.
Bleiben wir mal bei Harry Potter. Ich stelle mir J.K. Rowling vor, wie sie monatelang über der Handlung brütet, sich Nächte beim Schreiben um die Ohren haut und am Ende zufrieden und glücklich ist, ihr neues „Baby“ zu veröffentlichen. Wenn ich nun als Schnellleser daherkomme und das Buch innerhalb einer dreiviertel Stunde aufsauge, würde mir sicherlich etwas fehlen. Ich genieße es zum Beispiel, wenn ich in meinem Lesesessel sitze, es mir gemütlich mache und mich in einem gut geschriebenen Buch verliere. Wenn ich dann irgendwann am Ende angekommen bin, schlage ich es zu und halte es noch ein paar Minuten in der Hand. Ich lasse die Handlung noch mal Revue passieren und freue mich darüber, dass ich so eine schöne Zeit mit dem Buch hatte. Ich schätze es wert.
Genau diese Wertschätzung ist es, die mir bei vielen Dingen fehlt. Filme und Bücher verlieren immer mehr den Stellenwert von Kunst. Sie werden zu Massenware die massenhaft und möglichst schnell konsumiert werden. Je eher ich damit fertig bin, umso schneller kann ich mit dem nächsten Buch oder der nächsten Serie beginnen. Denn meine Watchlist ist quasi unendlich.
Vielleicht sollten wir uns einfach bei allem ein wenig mehr Zeit lassen. Und wenn man die Zeit nicht zur Verfügung hat, darüber nachdenken, ob man genau jetzt konsumieren sollte. Meist wird es keine negativen Auswirkungen haben, wenn man auf etwas verzichtet. Auch wenn einem dies dadurch suggeriert wird, dass in sozialen Medien ständig darüber diskutiert wird.
Der Pile of Shame
Ich spiele in meiner Freizeit gerne Videospiele. Nicht mehr so exzessiv wie noch vor 20 Jahren, aber dennoch regelmäßig. Dort erlebt man dasselbe Phänomen und der Begriff „Pile of Shame“ hat sich etabliert. Er beschreibt die Anzahl an Spielen, die sich zwar im eigenen Besitzt befinden, die man aber noch nie gespielt hat. Zum Teil wurden sie bei Rabattaktionen gekauft mit dem Ziel, sie irgendwann zu spielen. In der Regel wächst dieser Pile of Shame immer weiter und etliche Spiele werden niemals angerührt. Man hat aber das Gefühl, dass ich auf diese Rabattaktion auf keinen Fall verzichten sollte, denn damit spare ich ja Geld. Ein Trugschluss. In diesem Fall ist der einzige Weg Geld zu sparen der, kein Geld auszugeben.
Auf Vorrat zu kaufen, scheint so stark in uns verankert zu sein, dass wir uns nur schwer davon trennen können. Womöglich ist dies auch der Grund dafür, warum wir Filme und Serien ohne Ende konsumieren. Es ist vorhanden, also muss ich es auch nutzen. Wer weiß, wie lange es noch zur Verfügung steht.
Wie gesagt, möchte ich hier nicht alles infrage stellen, aber ein klein wenig mehr Augenmaß würde uns vermutlich nicht schaden. Sich einfach einmal Gedanken darüber machen, ob ich statt der neuesten Serie, nicht auch raus in die Natur gehen könnte oder mich bewusst mit einem Buch auseinanderzusetzen. In aller Ruhe.